Warum die virtuelle Lehre keine Notlösung ist, sondern eine Chance
Seit dem Start des Sommersemesters im April wird im dualen Studium virtuell studiert und gelehrt – das bedeutet, alle Vorlesungen finden per Videochat statt. Die Umstellung auf virtuelle Lehre lief an der IU dank der bereits vorher vorhandenen Infrastruktur und Erfahrung reibungslos. Wie das virtuelle Unterrichten genau aussieht und warum es aus ihrer Sicht alles andere als eine Notlösung ist, darüber spricht Dr. Uta Scheunert, Dozentin für Marketingmanagement an der IU, im Interview.
Dr. Scheunert, die IU ist ins virtuelle Sommersemester 2020 gestartet. Wie lief das ab?
Uta Scheunert: Für alle Professoren, die normalerweise ihre Vorlesungen im Hörsaal statt vor der Kamera abhalten, gab es im März und April Schulungen und einen sehr produktiven Erfahrungsaustausch mit unseren Kollegen aus dem IU Fernstudium. Den Empfehlungen folgend passte ich meine Veranstaltungen den Erfordernissen der virtuellen Lehre an. Zusätzlich gibt es in meinen Kursen aktuelle Fachthemen, die Studierende alleine oder in kleinen Gruppen erarbeiten und anschließend vor dem Seminar präsentieren. Teilweise sind das sehr kreative Beiträge, die nicht nur mir, sondern auch den Kommilitonen gefallen und den Vortragenden Spaß machen. Dabei werden auch die Medienkompetenz und das virtuelle Präsentieren geschult – eine gute Übung fürs Berufsleben.
Wie sieht eine typische virtuelle Vorlesung in Ihren Kursen aus?
Scheunert: Nach einer Begrüßung und der Frage, ob im Nachgang zur vorherigen Veranstaltungen noch Fragen aufgetaucht sind, gebe ich zunächst einen Ausblick darauf, wie die kommende Veranstaltung ablaufen wird. Gestartet wird dann entweder mit einem Vortrag eines Studierenden und dann mit inhaltlichen Ausführungen von mir oder ich starte direkt. Somit werden die Veranstaltungsinhalte primär zu Beginn absolviert, wenn die Aufnahmefähigkeit noch hoch ist. Wenn möglich, versuche ich auch während meiner Erläuterungen kleine Videosequenzen oder Praxisbeispiele einfließen zu lassen und rege zwischendurch eine Diskussion an. Im zweiten Veranstaltungsteil folgt in der Regel eine Gruppenarbeit (Breakout-Session) mit anschließender Präsentation und Diskussion, evtl. ein weiterer kleinerer inhaltlicher Teil oder ein Wissenstest am Smartphone (z. B. Pingo).
Was sind die Vorteile der virtuellen Lehre?
Scheunert: Ich bin der festen Überzeugung, dass alle jungen Menschen, die aktuell virtuell studieren, einen enormen Mehrwert aus ihrem Studium mitnehmen werden: eine hohe Medienkompetenz und Selbstorganisation sowie gelebte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.
Als Lehrende liebe ich die Funktion der Breakout-Sessions bei Zoom und dabei die randomisierte Zuordnung zu Gruppen. So werden bei Gruppenaufgaben etablierte oder eingefahrene Gruppenstrukturen durchbrochen. Studierende arbeiten flexibel miteinander – dadurch lernen sie sich untereinander besser kennen und üben in unterschiedlichen Konstellationen Ergebnisse zu erarbeiten, was im Berufsleben häufig gefordert ist. Über die Ergebnisse der Gruppenarbeiten bin ich häufig sehr positiv überrascht – im Gegensatz zu vergleichbaren Übungen in der Präsenzlehre ist der Output online höher und teilweise wertiger.
Wie bringt man die Praxis ins Onlinestudium?
Virtuelle Lehre bedeutet auch Praxisvorträge ohne räumliche Distanz – in einer meiner Veranstaltungen in Erfurt werde ich z. B. einen Global HR Business Partner aus dem Rhein-Main-Gebiet für einen Vortrag und eine Live-Diskussion zu Gast haben. Es wäre deutlich schwieriger gewesen, ihn analog als Gastvortragenden zu gewinnen.
Die räumliche Distanz wird durch das Studieren auf Distanz überwunden – kann es also auch Studierende einander näherbringen?
Scheunert: Definitiv. Ich habe ein virtuelles „Campus BER meets Campus EF“-Treffen ins Leben gerufen. Da ich zwei Kurse parallel in Erfurt und Berlin halte, habe ich mir überlegt, dass es für die Studierenden doch spannend sei, die Kommilitonen im gleichen Jahrgang und Kurs am anderen Studienort kennenzulernen. In der analogen Welt hätte ich die Erfurter Studierenden nicht im Zug mit nach Berlin nehmen können, aber in der virtuellen Welt funktioniert ein Treffen – und das quasi kosten- und CO²-neutral. Wir treffen uns ganz ungezwungen, freiwillig und mit einem Feierabendgetränk der Wahl.
Was sind die Herausforderungen der virtuellen Lehre?
Scheunert: Für mich ist das ganz klar das Fehlen der Reaktionen in den Gesichtern der Studierenden. Somit kann ich nicht oder nur schwer einschätzen, welche Reaktionen die verschiedenen Beiträge hervorrufen oder ob Themen/Erläuterungen ein Fragezeichen im Gesicht der Studierenden hinterlassen haben, das es in ein Ausrufezeichen zu wandeln gilt. Noch weniger kann ich das natürlich einschätzen, wenn beispielsweise aufgrund schlechter WLAN-Verbindungen die Kamera gar nicht eingeschaltet wird. Eine weitere Herausforderung ist der hohe Zeitaufwand und die Arbeitsbelastung – insbesondere jetzt bei der Notwendigkeit der kurzfristigen Umsetzung.
Wie geht es den Studierenden mit der virtuellen Lehre? Kommen sie mit den theoretischen Inhalten weiterhin gut zurecht?
Scheunert: Wann immer ich Studierende im virtuellen 4-Augen-Gespräch habe, frage ich aktiv nach, wie es ihnen aktuell geht und wie sie die virtuelle Lehre empfinden. Die Rückmeldungen, die ich erhalte, decken sich interessanterweise mit meinem Empfinden – das virtuelle Studieren hat durchaus positive Seiten. Den einen oder anderen Vorteil werden wir sogar missen, freuen uns aber, wenn wir uns mal wieder in der analogen Welt begegnen können. Dass die Studierenden mit den Inhalten gut klarkommen, das zeigen auch die Gruppenarbeiten und die sehr guten Präsentationen. Durch den Wechsel von Wissensvermittlung, Übung, Diskussion und Fragemöglichkeit zu jeder Zeit sehe ich keine Nachteile der virtuellen Lehre gegenüber dem Präsenzstudium. Einzig der Umfang der Inhalte ist im Präsenzstudium einfacher zu vermitteln – digital bedeutet eben nicht schneller.
Welche lustigen Momente begegnen Ihnen in der virtuellen Lehre?
Scheunert (lacht): Ich liebe es, wenn nach einer Pause plötzlich die Haustiere meiner Studierenden statt ihrer auf dem Schreibtischstuhl sitzen. Oder wenn sie zwischendrin direkt vor der Kamera durchs Bild schlendern. Auch der Mama, die den Kaffee bringt, sage ich gern ‚Hallo‘ und gebe meine Bestellung auf.
Es klingt, als wären Sie von der virtuellen Lehre ganz begeistert. Vermissen Sie trotzdem die Präsenzlehre?
Scheunert: Den Campus vermisse ich nicht, da ich von meinem Büro aus quasi auf Sendung gehe. Meine Studierenden – ja! Und natürlich das Leben und die Energie am Campus – die versuche ich aber bestmöglich virtuell zu greifen. Ich möchte mich außerdem bei meinen Studierenden dafür bedanken, dass sie diesen neuen und unbekannten Weg mit mir so offen, motiviert und positiv gehen – sie sind meine Inspiration und Fundament für mein Engagement.