Studierende setzen sich kritisch mit Sozialer Arbeit auseinander
Bei einer Exkursion tauchen Studierende der Sozialen Arbeit am Campus Stuttgart in eine unmenschliche Zeit deutscher Geschichte ein. Im Rahmen des Moduls „Theorien und Konzepte besuchten die angehenden Fachkräfte aus dem 2. und 3. Semester die Gedenkstätte Grafeneck.
„Das Gedenken braucht einen Ort“ – das ist der Leitgedanke hinter der Gedenkstätte Grafeneck. Die Gedenkstätte wurde 2005 um ein Dokumentationszentrum erweitert, in dem sich eine Dauerausstellung befindet. Sie erinnert an die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie”-Verbrechen in Südwestdeutschland. Durch die Nationalsozialist:innen wurde die diakonische Einrichtung im Oktober 1939 für „Zwecke des Reiches“ beschlagnahmt und in eine Tötungsanstalt umfunktioniert. Ihr Ziel: Hier sollte das „schlechte Erbgut“ aussortiert werden. Dazu wurden damals vor allem Menschen mit Behinderung, Menschen mit mentalen Krankheiten oder sogenannte „Assoziale“ als „lebensunwertes Leben“ stigmatisiert. Ab Januar 1940 wurden sie von verschiedenen Heilanstalten mit grauen, bewusst unscheinbaren Bussen nach Grafeneck transportiert.
Der Nationalsozialist Horst Schumann ordnete die Vergasung, also die Vergiftung mit Kohlenmonoxid-Gas, an. Insgesamt wurden so 10.654 geistig behinderte und psychisch erkrankte Menschen in Grafeneck getötet. Welcher Mensch als „lebensunwürdig“ galt, beruhte auf Aspekten wie Rasse, Diagnose, Beruf, Aufenthaltsdauer, der Anzahl der Besuchen, die die Insass:innen bekamen, sowie Kosten. Dieser systematische Massenmord sind Teil der „Aktion T4“: Hand in Hand arbeiteten Einrichtungen, Organisationen und Personen im Reich und direkt vor Ort in Grafeneck zusammen.
Die Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte
In der Lehrveranstaltung „Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit“ werden beispielsweise die frühen Theorien in der Sozialen Arbeit thematisiert. Diese waren zu Anfang des 20. Jahrhunderts sogar aus heutiger Sicht recht gut ausgearbeitet. Doch im Nationalsozialismus entwickelte sich die Soziale Arbeit in Deutschland zu einer Art Gehilfe der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“, die unter Wohlfahrtspflege auch die „Rassenauslese“ verstand. Bei der Exkursion sollten die Studierenden aus dem 2. und 3. Semester mehr über die Denkweise sowie das Geschehen dieser Zeit lernen und auch darüber, wie wenig Soziale Arbeit diesen Taten etwas entgegengesetzt hat.
Schon im Vorfeld wurden die Studierenden durch ihre Dozierende, Christiane Nakao, und Textarbeit auf die Exkursion vorbereitet. Außerdem hatte ein Studierender die Gedenkstätte bereits besucht und eine Präsentation darüber gehalten. Schließlich ist das Fach „Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit“ eher textlastig. Die Exkursion gab die Gelegenheit, aus dem „Lesemodus“ herauszukommen und etwas vor Ort zu erfahren. Das Beispiel sollte zeigen, wie sich eine soziale Einrichtung seiner Vergangenheit stellen kann. Grafeneck ist auch heute wieder eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung, die sich aber eben sehr aktiv mit ihrer „Euthanasie“-Geschichte auseinandersetzt.